Ende 1924 muss die SPD in Raunheim wohl sehr inaktiv gewesen sein. Nachdem einige Genossen in den letzten 14 Tagen die entsprechenden Vorarbeiten geleistet hatten, fand offenbar am 5.11.1924 eine Hauptversammlung statt, auf der ein neuer Vorstand gewählt wurde. Als Vorstandsmitglieder wurden auf Vorschlag hin einstimmig, teils neu- bsw. wiedergewählt:
1. Vorsitzender: Jakob Renneisen
2. Vorsitzender: Jakob Schäfer
Kassierer: Peter Müller
Schriftführer: Wilhelm Schnell
Beisitzer und Revisoren: Adam Becker und Ernst Schweinhardt
Alle müssen eine gute Arbeit geleistet haben, denn sieht man von der Bürgermeisterwahl ab, wurden bei den Kommunalwahlen 1925 hervorragende Ergebnisse erzielt.
Unter der Überschrift Kommunalwahlen und Freibier veröffentlichte die Mainzer Volkszeitung einen Artikel, in dem Klage geführt wird, dass in einzelnen Landorten sich wieder die verwerfliche Sitte bemerkbar machte, die Wählerschaft mit Freibier zu beeinflussen. Auch in Raunheim muss es gang und gäbe gewesen sein. Nach mündlicher Überlieferung ist vor einer Bürgermeisterwahl so manch „armen Schlucker“ die noch offene Grundsteuer bezahlt worden und auch Freibier und Freiessen sowie Wahlversprechen, die offenbar später nicht eingehalten wurden, gehörten zum Wahlkampf.
Der Gemeinderat legte die Bürgermeisterwahl auf Sonntag, den 12. Juli 1925 fest. In einer überaus gut besuchten Parteiversammlung wurde nach längerer Diskussion fast einstimmig beschlossen, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Eine sechsgliedrige Kommission sollte die Wahlen vorbereiten. In einer weiteren Parteiversammlung am 1.7.1925 wirde Philipp Jakob Renneisen nominiert. Weiterhin kandidierte der seitherige Bürgermeister Adam Michel wieder, der mit dem Wahlslogan im Groß-Gerauer Kreisblatt warb:
„Die Raunheimer wählen den alten, er hat uns treu und ehrlich hausgehalten!“
Bei der Wahl erhielten:
Adam Michel: 934 Stimmen
Philipp Jakob Renneisen: 215 Stimmen
Nach dem schlechten Abschneiden bei der Bürgermeisterwahl fand am 22.7.1925 eine Parteiversammlung statt, bei der nach kurzer Diskussion und nur wenigen Gegenreden beschlossen wurde, Wilhelm Schnell wieder als Kandidaten für die Beigeordnetenwahl zu nominieren. Für das bürgerliche Lager kandidierte Bäckermeister und Landwirt Philipp Heinrich Ackermann. Die Wahlen am 26.7.1925 brachten folgendes Ergebnis:
Wilhelm Schnell: 552 Stimmen
Philipp Heinrich Ackermann: 458 Stimmen
Der Wahlkampf scheint nicht immer sauber geführt worden zu sein. Denn in einer kurz nach der Wahl abgehaltenen Parteiversammlung hält Jakob Renneisen eine leidenschaftlich gehaltene Rede und führt unter anderem aus:
„Die Arbeiterschaft Raunheims hat bei dieser Wahl auf bewiesen, dass sie nicht auf das Motto „Wer de merscht bezehlt, der wird bewehlt!“ (Wer das meiste bezahlt, der wird gewählt) hereinfällt, sondern im gegebenen Moment noch immer wieder ihre Kampfkraft bewährt. Möge die Wahl ein gutes Vorzeichen für die kommenden Gemeinderatswahlen sein und es sich dort zum zweiten Male zeigen, dass die alten Erfindungen und Verleumdungen der Bürgerpartei nicht genug sind, die Wahrheitsliebe der Wählerschaft zu ersticken. „Nicht betteln, nicht bitten, nur ehrlich gestritten, nie kämpft es sich schlecht für Wahrheit und Recht!“ – Ja: „Einigkeit macht stark!“ – Hoch die Sozialdemokratie!“
Die Gemeinderatswahlen wurden ebenfalls von einer Kommission vorbereitet, die diesmal aus sieben Mitgliedern bestand und eine Kandidatenliste für die am 15. November stattfindenden Wahlen erstellen sollte. Die Wahlen erbrachten folgendes Ergebnis:
Sozialdemokraten: 827 Stimmen
Bürgerpartei: 301 Stimmen
Verteilt man die 12 Gemeinderatssitze nach d’Hondt, so erhielt die SPD 8 Sitze und die Bürgerpartei 4 Sitze. Der Gemeinderat setzte sich damit zusammen aus:
Adam Michel, Bürgerpartei, Bürgermeister
Wilhelm Schnell, SPD, Beigeordneter
Philipp Jakob Renneisen, SPD, Gemeinderat
Ludwig II. Sezanne, SPD, Gemeinderat
Peter Müller, SPD, Gemeinderat
Jakob Schäfer, SPD, Gemeinderat
Daniel Heupt, SPD, Gemeinderat
Ernst Schwienhardt, SPD, Gemeinderat
Heinrich Schneiker, SPD, Gemeinderat
Gustav Roth, SPD, Gemeinderat
Jakob Renneisen, Bürgerpartei, Gemeinderat
Georg Reviol, Bürgerpartei, Gemeinderat
Georg Kolb, Bürgerpartei, Gemeinderat
Philipp Heinrich Ackermann, Bürgerpartei, Gemeinderat

Im Sommer 1925, das Groß-Gerauer Kreisblatt veröffentlichte zu dieser Zeit monatlich die Arbeitslosenzahlen der einzelnen Orte, waren für Raunheim zwei Arbeitslose zu verzeichnen. Dies änderte sich aber schnell, denn schon im Oktober waren es 25. Die hohe Arbeitslosigkeit ging fast über das ganze Jahr 1926 und kam in immer stärker werdenden Wellen bis in die dreißiger Jahre wieder. Immer wieder wurde versucht, durch Notstandsarbeiten die Not zu lindern. So wurden z.B. die Wohnhäuser Odenwaldstraße Nr. 4-12 gebaut, übrigens gegen die Stimmen der bürgerlichen Fraktion. Das Vorhaben, im Grunde schon Mitte 1926 gegen die Stimme des Bürgermeisters und eines bürgerlichen Gemeinderates beschlossen, sollte bereits in der Gemeinderatssitzung am 5.4.1927 endgültig verabschiedet werden, doch verließen die Bürgerlichen die Sitzung und der Tagesordnungspunkt musste zunächst wegen Beschlussunfähigkeit vertagt werden. Fehlene Wohnungen wurden seit der Zeit der Industrialisierung immer wieder beklagt. Sicher nicht nur aus Wohnungsmangel, sondern auch aus der allgemeinen Not heraus wurden Anfang 1928 drei Güterwagen angeschafft und in der alten Kiesgrube aufgestellt. Ein Jahr später werden 43 Wohnungssuchende registriert, bei ca. 1500 Einwohnern eine ernst zu nehmende Zahl. In dieser Zeit wurden aber auch eine Reihe von Straßen gepflastert und Bürgersteige angelegt. Als wichtigste Maßnahme ist wohl der 1928 beschlossene Bau der Wasserversorgung zu sehen.
Manchmal lässt es sich nicht mehr feststellen: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei. Am 4. März 1924 jedenfalls druckt die Main-Spitze ein aus dem Groß-Gerauer Kreisblatt übernommenes Inserat des Gemeindearztes Dr. W. ab:
„Ich werde jedermann unnachsichtig zur Anzeige bringen, der mir noch einmal zumutet abzutreiben.“
Vordergründig sprach man im Dorf davon, dass der Sohn eines früheren Gemeinderatsmitgliedes und Großbauern zu sehr mit Nachbars Tochter geflirtet haben soll. Aber das wirkliche Problem muss wesentlich tiefer gelegen haben, wie wir aus den Ereignissen der kommenden Jahre sehen werden. Bereits ab 1924/25 wird für Raunheim ein zweiter Arzt gefordert. Auf Antrag der SPD-Fraktion fand im Gemeinderat am 12. Februar 1926 eine Sondersitzung statt, in der folgender Beschluss gefasst wurde:
Das Oberversicherungsamt in Darmstadt wird im Interesse der Raunheimer Einwohnerschaft und noch im besonderen der Krankenkassenmitglieder seitens der Gemeindevertretung dringend ersucht, die unbedingt nötig erachtete Zulassung des Dr. Hämmerle als Arzt alsbald bestätigen zu wollen, zumal bereits in früheren Jahren, vor und während des Krieges, die Existenzmöglichkeiten am hiesigen Orte für zwei Ärzte schon bestanden hat.
Der Gemeindearzt, der wohl auch in der Zulassungskommission saß, konnte die zweite Arztstelle verhindern, obwohl um die Angelegenheit bis 1929 erbittert gekämpft wurde. Ende 1926 kam es zu einer Anzeige des Gemeindearztes gegen den ersten Beigeordneten, sodass dieser sein Amt niederlegen musste. Die Nachwahl fand am 26.6.1926 bei niedriger Wahlbeteiligung statt. Es erhielten:
Johannes Hübner, SPD: 266 Stimmen
Philipp Heinrich Ackermann, Bürgerliche Partei: 446 Stimmen
Geord Daum, wahrscheinlich KPD: 206 Stimmen
Es kam bei einer Wahlbeteiligung von 74 % zu einer Stichwahl, bei der Johannes Hübner mit 447 Stimmen gegenüber 618 Stimmen von Philipp Heinrich Ackermann unterlag.
Im Frühjahr 1928 muss wohl (erneut) vor dem Oberversicherungsamt verhandelt worden sein, bei der die Gemeinde unterlag. Am 16. Juli 1928 fand eine Gemeindeversammlung im Löwen unter der Leitung des ersten Beigeordneten statt, um die Situation nach den geführten Prozessen zu erörtern. Aus der Versammlung muss die Forderung gekommen sein, dass der Gemeinderat und alle Ersatzleute zurücktreten, bei einer von der Regierung eventuell angesetzten Neuwahl keine Listen aufgestellt werden und eine Urabstimmung bei den Versicherten über die Arztfraue durchgeführt wird.
Schon am 17. Juli 1928 trat der Gemeinderat zusammen und beschloss:
Stellungnahme zu der öffentlichen Versammlung vom 16. Juli 1928. Demission des Gemeinderats und deren Ersatzmänner. Der Gemeinderat beschließt: In Anbetracht des Versagens des Hess. Kreisamtes Gr.-Gerau sowie der öffentlichen Versammlung vom 16. Juli 1928 in Sache Autogarage des Herrn Dr. Wegener und Zulassung des zweiten Kassenarztes der Gemeinde Raunheim, sieht sich der Gemeinderat moralisch verpflichtet, seine sämtlichen Ämter zur Verfügung zu stellen.
Es folgen die Unterschriften vom ersten Beigeordneten und elf Gemeinderäten. Bürgermeister Michel war entweder nicht anwesend oder hat nicht unterschrieben. Gemeinderat Heupt hatte schon seit Februar sein Amt nicht mehr wahrgenommen. Acht Ersatzmänner unterschreiben ebenfalls. Das Kreisamt versuchte einzugreifen. Es gab mit Rundschreiben an die Gemeinderäte Hinweise und Winke, wie die Gemeinde eventuell doch noch ihre Anträge durchdrücken bzw. Beschwerde gegen die erlassenen Urteile führen kann. Gleichzeitig wird in dem Schreiben unter Strafandrohung und Aberkennung er Wählbarkeit (!) der Gemeinderat aufgefordert, im Interesse der Gemeindeverwaltung die Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Es wurde ernst gemacht. Erst zum 30. Oktober lädt Bürgermsiter Michel wieder zu einer Gemeinderatssitzung mit drei Tagesordnungspunkten ein, bei der aber wie im Protokoll vermerkt wurde, der Gemeinderat nicht erschienen ist. Um die Beschlussfähigkeit zum umgehen, wird nun mit gleicher Tagesordnung zum 13. November eingeladen. Der Gemeinderat beschließt aber gegen Michel, die Tagesordnung erst zu beraten, wenn die Arztfrage geklärt ist. In ähnlicher Weise wird noch bid Dezember 1928 gehandelt. Dann setzt, wenn auch zögerlich, die Arbeit wieder ein. Es war wohl von verschiedenen Seiten bekundet worden, dass der neuerlich gestellte Antrag befürwortet werden würde. Man war sich um die Jahreswende 1928/29 ziemlich sicher, nach dreijährigem Kampf die zweite Arztstelle zu erhalten. Dr. Buxbaum war schon verpflichtet und eine Wohnung auf Gemeindekosten gemietet.
Am 4. März 1929 tagte das Schiedsgericht des Oberversicherungsamtes und lehnte das Raunheimer Begehren mit 4 zu 3 Stimmen ab. Die Empörung war groß, wie man sich leicht vorstellen kann. Die AOK versuchte es noch einmal mit einem Einspruch beim Schiedsgericht des Reichsversicherungsamtes, das die zweite Arztstelle ebenfalls ablehnte und die AOK noch zu einer Konventionalstrafe von 100 Mark verurteilte. Obwohl der Einführung einer zweiten Arztstelle in Volksversammlungen mehrfach unter großer Beteiligung zugestimmt wurde und auch der Gemeinderat sich immer wieder einstimmig dafür aussprach, wurde die Angelegenheit von Bürgermeister Michel nur halbherzig betrieben. Einspruchsfristen wurden versäumt und zu wichtigen Terminen wurde er krank. Offenbar wurden aber auch sonst Gemeinderatsbeschlüsse nicht zufriedenstellend erledigt oder Anträge von Bürgern nur schleppend bearbeitet. Auf der Gemeinderatssitzung am 29. Juli 1929 kam es dann zum Eklat. Der Gemeinderat beschließt nämlich, dem Bürgermeister wegen seiner Geschäftsführung das Misstrauen auszusprechen. Der Beschluss wurde mit acht gegen vier Stimmen gefasst bei einer Stimmenthaltung. Weiterhin sollte eine Kommission, bestehend aus den Gemeinderäten Renneisen, Sezanne, Müller und Schneiker, beim Kreisamt Groß-Gerau vorstellig werden.
Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl