13. Der 1. Weltkrieg

Am 31. Juli 1914 wird der Kriegszustand erklärt und Raunheim dem Befehl des erweiterten Festungsbereiches Mainz zugeordnet. Gleichzeitig wird bekanntgemacht, zunächst keine UNterdrückung der Presse oder besonderer Maßnahmen gegen politische Parteiführer eintreten zu lassen, solange sie sich der großen Stunde des Vaterlandes würdig zeigen. Die Bekanntmachung wurde ernst genommen, denn in den ersten Kriegsjahren erschienen keine kritischen Artikel mehr über Raunheim in der Mainzer Volkszeitung, weder über die Arbeit im Gemeinderat noch über Aktivitäten der Partei. Ende 1916 hat sich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln so weit verschechtert, dass die Rücksichtnahme aufgegeben wird. In einem ausführlichen Artikel in der Mainzer Volkszeitung wird massiv Klage über die ungerechte Verteilung der Kartoffeln geführt. Gleichzeitig werden Schiebereien und Wucher der „Herren Patrioten“ angeprangert. Rektor Ihrig berichtet in der Schulchronik über diese Zeit:

 

„Doch es kam noch schlimmer. Von 1916 ab klopfte immer deutlicher und vernehmlicher die Not an allen Türen und der Mangel an allem Notwendigen, nicht für die Ernährung allein, sondern auch dessen, was für die Kriegführung erforderlich war, kündigte sich mit immer lauter werdenden Stimmen an. Kein Brot lag mehr in den Papierkörben wie vor dem Kriege in so großer Menge. Schon längst musste mit Hilfe der Brotkarten die vorhandenen Brot- und Mehlmengen in knapp bemessenen Umfang pro Kopf verteilt werden. Und die Erhebungen und Bestandsaufnahmen, die dazu erforderlich waren, das Schreiben der Brotkarten und Brotkartenlisten, ja selbst das Austeilen der Brotkarten an die Bevölkerung, alles erfolgte hier durch die Hilfe der Lehrer. Ernteflächenerhebungen, die jedes Jahr gemacht werden mussten, manchmal sogar öfters, da sie nicht zuverlässig genug waren, das Sammeln von Papier, Haaren, Konservenbüchsen, Stofflappen, Steinen des Kernobstes, Bucheln zur Ölgewinnung, Brennesseln zur Gewinnung von Gespinstfasern und immer zwischendurch Kriegsanleihen und Werbung für die selben mit dem Hinweis auf die unbedingte Sicherheit und Nützlichkeit der Kapitalanlage, endlich gegen Kriegsende, die Laubheu-Gewinnung und das Sammeln von Wildgemüsen, all das erforderte immer und immer wieder Hand und Kopf von Lehrern und Schülern und kam dem geordneten Unterricht arg in die Quere.

Natürlich ging der Ernährungszustand der Kinder immer weiter zurück, die Kleidung wurde immer Notdürftiger. Barfuß zur Schule zu kommen war schon längst geduldet und erlaubt und Versäumnisse wegen ungenügender Kleidung, besonders wegen fehlendem oder doch mangelhaftem Schuhwerk wurden geduldet und kamen immer häufiger vor.“

 

Die Versorgungslage hat sich dann bis Mitte 1917 soweit verschlechtert, dass am 17. Juli 1917 Jakob Wohlfahrt in einer Gemeinderatssitzung für die Sozialdemokratische Partei die Wahl einer Lebensmittelkommission beantragte. An dieser Stelle sei eingefügt, dass Ludwig Sezanne im Mai 1917 verstorben war und nun die politische Führung der SPD offenbar für die Zeit des 1. Weltkriegs von Jakob Wohlfahrt übernommen wurde. Erschwerend für die Beurteilung der kommenden politischen Umwälzung wirkt sich auch aus, dass das Protokollbuch oder die Protokollbücher des Gemeinderates von Mai 1917 bis Juli 1921 nicht mehr vorhanden sind. Dem Antrag wurde zugestimmt und am Sonntag, den 15. Juli auf einer Bürgerversammlung wurde eine Lebensmittelkommission bestellt, bestehend aus dem Bürgermeister Preß und sechs weiteren Mitgliedern. Weitere Beschwerden bleiben aber nicht aus. Am 15. November erscheint dann auch wieder ein Artikel in der Mainzer Volkszeitung über eine Parteiversammlung. Es wurde eine Ersatzwahl vorgenommen, vermutlich für Ludwig Sezanne. Leider wird weder Name noch Funktion genannt. Aber man beschloss, auch eine öffentliche Versammlung einzuberufen, in der unter anderem auch die Lebensmittelfrage besprochen werden sollte, „da einigen Herren der Lebensmittelkommission gesagt werden muss, dass sie für die Allgemeinheit da sind„. Die Gemeinderatswahlen, die 1916 fällig gewesen wären, fielen kriegsbedingt aus. Bis 1918 waren drei Gemeinderatsmitglieder verstorben.

Am 16. Dezember 1917 beschließt der Gemeinderat in einer „geheimen“ Gemeinderatssitzung, die Geschäftsleute Metzgermeister Schnell, Bäckermeister Schnell und Gastwirt Heldmann als Gemeinderäte zu ernennen. Dagegen wendet man sich in einer Parteiversammlung und beauftragt den Vorstand, beim Kreisamt Protest einzulegen. Auf Vorschlag des Kreisamtes, nur zwei Gemeinderäte zu ernennen, „einigte man sich nach längerem Hin und Her“ auf Heinrich Gerlach, Schlosser, wahrscheinlich SPD, und Heinrich Maurer, Landwirt.

Am 1. September 1918 kommt es wohl auf Betreiben der SPD erneut zu einer Bürgerversammlung über die Vervorgung der Raunheimer Bevölkerung. Die Mainzer Volkszeitung meldet am 4. September dazu:

In der am Sonntag stattgefundenen öffentlichen Bürgerversammlung, die trotz aller geradezu lächerlichen Schikanen (Verbot des Ausschellens, Abreißen der Plakate usw.) gut besucht war und sich mit der Lebensmittelbeschaffung und -verteilung befasste, wurde ein Konsumentenausschuss, bestehend aus den Herren Heinrich I. Maurer, Ludwig Hummel, Heinrich Jakob Renneisen, Gustav Gürtel, Wilhelm Schgnell und Ludwig II. Sezanne bestimmt, der von jetzt ab sämtliche Beschwerden von Konsumenten der Lebensmittelkommission zwecks Abhilfe unterbreiten soll, und wenn diesem nicht Rechnung getragen wird, sich unverzüglich an das Kreisamt Groß-Gerau zu wenden. Die große Mehrzahl der Kommission hatte nicht den Mut, in der Versammlung zu erscheinen. Warum wohl?“

Und in der Revolution? Am 3. Oktober 1918 treten die Sozialdemokraten mit in das Kabinett des Reichskanzlers Max von Baden ein und übernehmen in wichtigen Positionen Verantwortung. Nach einem Ultimatum der SPD tritt Kaiser Wilhelm II. zurück und erklärt den Thronverzicht. Friedrich Ebert wird der erste sozialdemokratische Reichskanzler. Zeitgleich wird in Hessen-Darmstadt ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, der am 10. November 1918 in Hessen die Republik ausruft und Großherzog Ernst Ludwig für abgesetzt erklärt. In den nächsten Wochen schwärmen die „Führungsgenossen“ in die Provinz aus, um ihre Ziele zu erläutern. So findet am Sonntag, den 24. November in Raunheim eine öffentliche Versammlung statt, zu der die Mainzer Volkszeitung berichtet:

„In der am Sonntag abgehaltenen öffentliche  Versammlung sprach Genosse Stork vom Arbeiter- und Soldatenrat Darmstadt über das Thema „Die Republik und unsere Aufgaben“. Der Redner legte in leicht verständlicher Weise die letzten Vorgänge dar und erklärte, dass die Arbeiterschaft keine Ursache hätte, den Kopf hängen zu lassen, denn das Vertrauen zu unseren Führern und Einigkeit und Geschlossenheit würde die Position der Arbeiterschaft stärken. Unter dem Beifall der Versammlung forderte der Redner die baldige Einberufung der Nationalversammlung. Nach Aufforderung des Vorsitzenden an die Anwesenden, die Volkszeitung zu abonnieren und in die Partei einzutreten, wurde die Versammlung geschlossen.“

Was nicht im Bericht steht, ist, dass auf dieser Versammlung offenbar für Raunheim ein Arbeiter- und Bauernrat gewählt wurde, denn einen Tag später lässt man sich auf einer Gemeinderatssitzung das Mandat übertragen:

Abschrift des Mandats

Es ist zu vermuten, dass die Gründung des Arbeiter- und Bauernrates nicht unumstritten war, denn die SPD Gemeinderäte Wohlfahrt und Adolay nahmen an der Sitzung nicht teil.

Rektor Ihrig vermerkt zu der Zeit in der Schulchronik:

„Dann kam 1918 der Zusammenbruch. Man hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu sinken und wusste nicht, wer zu befehlen und wer zu gehorchen hatte. Arbeiter- und Soldatenräte beschlagnahmen unsere beiden Schulen zu Massenquartieren für die zurückflutenden deutschen Soldaten im Monat November 1918. Drei Wochen lang ruhte jeder Schulbetrieb. Aber abgesehen von einer einmaligen Benutzung durch durchkommende Soldaten für ein bis zwei Tage und der Unterbringung eines Bahnhofskommandos in einem Schulsaal für mehrere, etwa acht Tage, wurden unsere Schulsäle gar nicht in Anspruch genommen, wohl aber durch das überstürzte und unvorsichtige Ausräumen der Säle, bei dem es oft schien, als ob die Ausräumenden einem lang zurückgehaltenen Groll und Hass freien Lauf ließen, dem gesamten Inventar sehr beträchtlicher Schaden zugefügt.“

Die Kapitulationsurkunde des Deutschen Reiches schloss, neben der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen, auch die Festung Mainz mit einem Brückenkopf von 30 km Tiefe auf dem rechten Rheinufer ein. Ein Teil des Kreises Groß-Gerau und damit auch Raunheim wurde französisch besetztes Gebiet. Von Februar bis Ostern 1919 war ein Schulgebäude mit französischen Soldaten belegt. Inwieweit die Besatzungsmacht in das politische und wirtschaftliche Leben eingriff, wäre separat zu untersuchen. Zumindest in der ersten Zeit wurde zu Versammlungen mit dem Hinweis eingeladen: „Vorbehaltlich der behördlichen Zustimmung“. Eine Wahlkreiskonferenz in Rüsselsheim musste ohne die Delegierten aus Darmstadt stattfinden, da sie ihre Pässe nicht rechtzeitig erhielten. Die erste Parteiversammlung in Raunheim unter französischer Besatzung fand erst im August 1919 statt. Auch muss der Gemeinderat Anfang 1919 seine Arbeit wieder aufgenommen haben, vermutlich auf Geheiß der Besatzungsmacht, denn der französische Kommandant in Groß-Gerau hat zum Beispiel verfügt, dass die sich als unzuverlässig erwiese Lebensmittelkommission, die in den Revolutionstagen abgesetzt wurde, ihre Tätigkeit wieder aufnehmen soll. Der Gemeinderat beschließt aber auch Ende März und Ende April 1919 über eine neue Kommission, deren Mitglieder sind:

Jakob Wohlfahrt, SPD, Gemeinderat
Heinrich Gerlach, Gemeinderat
Ludwig II. Sezanne, SPD

 

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Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl