Mit zunehmender Industrialisierung in unserem Raum haben sich die Arbeiter in Berufsverbänden organisiert, so wie z.B. die Schuhmacher, Schneider oder Maurer. Die Metallarbeiter gründeten 1905 in Rüsselsheim einem Ortsverband. Ein großer Teil der Raunheimer Arbeiter dürfte organisiert gewesen sein; ein Ortskartell ließ sich aber vor dem 1. Weltkrieg nicht nachweisen. Im Jahr 1899 wurde in Darmstadt das Arbeitersekreteriat von Philipp Müller gegründet, der uns ja schon von den Reichstagswahlen her bekannt ist. Das Arbeitersekreteriat, getragen von der SPD und den Gewerkschaften, beriet die Arbeiterschaft kostenlos bei arbeitsrechtlichen Problemen. Philipp Müller war in Raunheim kein Unbekannter. Er sprach öfter auf Parteiversammlungen und Veranstaltungen zum 1. Mai.
1904 muss wohl die Gewerbeinspektion in Raunheim gewesen sein. In einem Schreiben an den Bürgermeister wird festgestellt, dass 11 Kinder unter 12 Jahren Zeitungen austragen, und vier Kinder werden an Sonntag Nachmittagen mit Aufsetzen von Kegeln beschäftigt. Der Bürgermeister wird ersucht, dies den Gastwirten und Eltern zu untersagen.
Auch im Röhrenwerk ist es offenbar zu Beanstantungen gekommen, denn im Stadtarchiv liegt noch ein weiteres Schriftstück, auf dem für 1905 vier Nachprüfungen aufgeführt sind, jedoch ohne Beanstantungen. Wir erhalten dadurch aber einen Einblick in die Arbeitszeit von drei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren, die in der Woche 60 Stunden arbeiten mussten und zwar von 6 bis 18 Uhr mit Pausen von 8 bis 8:30 Uhr, 12 bis 13 Uhr und 15:30 bis 16 Uhr. Dies dürfte auch die Arbeitszeit der Fabrikarbeiter um die Jahrhundertwende gewesen sein.
Bereits 1901 musste das erst drei Jahre bestehende Röhrenwerk für drei Monate schließen. Es lag wohl weniger an der Auftragslage, vielmehr sollte wohl eine lästige Konkurrenz vom Markt gedrückt werden. Per Anschlag wurden die Beschäftigten informiert, dass der Betrieb schließt und sie entlassen sein. Die Main-Spitze vom 20.02.1901 schreibt dazu:
„Ein bezeichnendes Licht auf die in der Eisenindustrie herbeigeführten Zustände wirft folgender Anschlag, der an dem Röhrenwerk Raunheim angebracht ist: „Mit Schluss dieses Monats legen wir den Betrieb bis auf weiteres still und kündigen hiermit unseren sämtlichen Beamten, Meistern und Arbeitern und findet die Ablöhnung und Entlassung am letzten dieses Monats statt. Wir bedauern es tief, dass wir zu diesem Schritte gezwungen sind, aber auch dem Laien ist es klar, dass die heutigen Marktpreise unseres Fabrikates die Möglichkeit der Herstellung nicht mehr zulassen, selbst bei Zugrundelegung niedrigster Tagespreise für die Vorprodukte.Große Opfer haben wir nachweislich bisher gebracht, weitere Zubußén würden wir bereit sein zu tragen, wenn die zeitige Verelendung des Marktes allein durch die Ungunst der Verhältnisse herbeigeführt und auf Besserung im gewohnten Wechsel der Zeiten zu rechnen wäre. Wir stehen jedoch einer künstlich böswilligen Preisminderung gegenüber, deren Ende wir nicht absehen können und welche uns zu diesem traurigen Schritte zwingt. Wir hoffen, dass die jetzt an der Arbeit befindlichen Möchte bald zur Einsicht kommen und die für die Arbeitsmöglichkeit erforderliche Umstände wieder herbeiführen. Bis dahin auf Wiedersehen! Röhrenwerk Raunheim GmbH, Die Direktion“

Die Betriebsschließung muss auch überregional beachtet worden sein, denn gleich mehrer Zeitungen, darunter die Main-Spitze und auch die Mainzer Volkszeitung, druckten am 3. April 1901 den Artikel ab:
„In unserem kleinen Hessendorfe Raunheim ertönt heute das Sterbeglöcklein, denn die Industrie unseres Landes, mit Kindern ohnehin nicht reich gesegnet, begräbt heute ein junges Leben, da das hiesige Röhrenwerk gezwungen ist, den Betrieb einzustellen. Als Leidtragende erscheinen am Darge die Besitzer, ein Heer Beamter und vor allem die Arbeiter mit ihren Familien, für die das Bestehen des Werkes eine Existenzfrage war. Das Tieftraurige der Sache wird verschärft durch die Erkenntnis, dass die Arbeitseinstellung weniger auf die Ungunst der Konjunktur zurückzuführen ist, als auf die Machenschaften einiger großer Verbände. Diesen Nimmersatten der Industrie am Niederrhein war selbst dieses kleine Werk in Süddeutschland ein Dorn im Auge und durch brutalsten Missbrauch der Kapitalmacht musste es daher vom Erdboden vertilgt werden. Es ist wahrlich an der Zeit, dass der Staat, wie es ja schon in Erwägung gezogen ist, dem Treiben solcher Syndikate ein Ziel setzt. Das Röhrensyndikat und der Streifenverband, deren Sitz am Niederrhein, hat der preußische Handelsminister sichernicht gekannt, sonst wäre er nicht so leicht darüber hingegangen, als die Staatskontrolle für die Syndikate angeregt wurde. Wäre ein Fall, wie hier in Raunheim bekannt gewesen, so würde sicher nicht nut Staatsaufsicht, sondern Polizeiaufsicht in Vorschlag gebracht worden sein. Wenn die Verhandlungen mit Ergeb und Gläubigern vor dem Nachlassrichter Gelegenheit geben, das Land und Volk einen Blick in die dunklen Machenschaften unserer Syndikate tun, wenn die Empörung über solche Zustände immer weiter Bahn brcicht und die übermächtigen Vereinigungen mit ihrem wenig sauberen gemeingefährlichen Gebahren ans Licht gezogen und an den Pranger gestellt werden, und wenn da endlich vom Staat Wandel für diese schmachvollen Zustände geschaffen wird, dann armes kleines Raunheim bist du nicht umsonst erwürgt, dann hast du dir eine Krone erworben, wenn auch nur die eines Märtyrers.“
Zwar nimmt der Betrieb im August die Arbeit wieder auf und es sollen bis zu 200 Leute eingestellt werden. Aber Firmengründer Albert Schmitts wird das Werk an die Mannesmann-Gruppe verkaufen, die die „Röhrenwerk GmbH“, wie sie jetzt firmiert, bis Ende 1913 betreibt. Schlechte Arbeitsbedingungen und schwere Arbeitsunfälle führen immer wieder zu Klagen.
Aber erst am 16. Juni 1911 abends versammeln sich fast vollzählig alle Arbeiter und beauftragen den Metallarbeiterverband (möglw. Mainz) ihre Lohnforderungen und Verbesserungen bei der Geschäftsleitung durchzusetzen. Die ortsüblichen Löhne legte wohl auch der Gemeinderat fest, denn von Zeit zu Zeit finden wir in den Gemeinderatsprotokollen Eintragungen darüber. So zum Beispiel im Protokoll vom 2. Aril 1911:
„Punkt 8. Die Erhöhung der ortsüblichen Tagelöhne
I. Der Durchschnittswert wird wie folgt festgesetzt:
- Kost für männliche Arbeiter jährlich: 300 Mark
- Kost für weibliche Arbeiter jährlich: 200 Mark
- Kleidung und Schuhwerk jährlich: 50 Mark
- Wohnung jährlich: 50 Mark
- Feuerung jährlich: 12 Mark
- Beleuchtung jährlich: 3 Mark
II. Der ortsübliche Taglohn gewöhnliche Tagearbeit wird wie folgt gestgesetzt:
- Für männliche Arbeiter über 16 Jahren: 3,50 Mark
- Für weibliche Arbeiter über 16 Jahren: 2,00 Mark
- Für männliche Arbeiter unter 16 Jahren: 1,80 Mark
- Für weibliche Arbeiter unter 16 Jahren: 1,30 Mark
III. Der durchschnittliche Jahresarbeitsverdienst land- und forstwirtschaftlicher Arbeiter wird wie folgt festgesetzt:
- Für männliche Arbeiter über 16 Jahren: 1050 Mark
- Für weibliche Arbeiter über 16 Jahren: 600 Mark“
Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl