7. Der Fall „Cramer“

Im Jahre 1905 war der Sieg bei der Landtagswahl noch größer. Berthold erhielt 48 der 50 Wahlmännerstimmen und diesmal auch die zwei aus Raunheim. Für die Landtagswahl 1912 gab es wieder ein gutes Ergebnis und Henrich Berthold behielt sein Mandat bis zur Auflösung des Landtags am 8.11.1918.

Im Jahre 1905 treibt Cramer ein Siedlungsprojekt in Darmstadt (Gartenstadt – Der Architekt für das Projekt ist Prof. Ulbrich, unter dessen Leitung auch die Mathildenhöhe entstand.) – er ist dort Grundstücksbesitzer – voran und bespricht das Projekt mit dem Großherzog beim Tee. Schon letzteres war in den Augen der Sozialdemokraten eine Todsünde und hat für erhebliches Aufsehen gesorgt. Die Parteipresse ist wohl mit Cramer nicht gerade fein umgegangen und über eine Parteiversammlung in Darmstadt berichtet die Mainzer Volkszeitung am 12. Februar 1906 unter der Überschrift Der Fall Cramer:

„Das von dem Genossen Cramer angerufene Urteil der Darmstädter Parteigenossen wurde am Samstag Abend gesprochen. Die stark besuchte Parteiveranstaltung nahm nach Darlegung der Gründe des Genossen Cramer für seine Handlungsweise und nach den Ausführungen einer Reihe von Parteigenossen, die sämtlich den Schritt Cramers verurteilten, folgende Resolution an:

„Die Parteiversammlung vom 10. Februar spricht dem Genossen Cramer für seinen Gang zum Großherzog und für die heute abgegebene Erklärung: „Ich widerrufe unter keinen Umständen“ ihre entschiedene Missbilligung aus. Die Versammlung erwartet von dem Genossen Cramer, dass er entgegen seiner Erklärung zugibt, einen Fehler gemacht zu haben und dass er sich verpflichtet, diesen Fehler durch eine intensive Arbeit für die gesamte Arbeiterbewegung soweit wie möglich wieder gut zu machen.““

Die Zeitung führt dann weiter aus:

„Der Genosse Cramer ist nach Kenntnisnahme dieser Resolution zu dem Entschluss gekommen, sein Reichstags- wie auch sein Stadtverordnetenmandat niederzulegen.“

Damit tritt ein altgedienter Genosse ab, der zu dieser Zeit schon 28 Jahre mit Heinrich Berthold Schulter an Schulter gekämpft hatte und für die Partei und seine Überzeugung im Gefängnis saß. Für die nun fällige Ersatzwahl kandidiert Heinrich Berthold und kann, wenn auch erst nach einer Stichwahl, den Wahlkreis nochmals erringen. Seine Gegenkandidaten vertreten jeweils mehrer Parteien bzw. Gruppierungen. Dr. Stein von den Nationalliberalen steht auch für die Bauernbundes, Ultramontanen und Antisemiten und Pfarrer Korell aus Königstädten kandidiert für die Freisinnigen und bildet mit den Nationalsozialen die Liste Vereinigte Liberale.

Hauptwahl:

Wahlkreis:

Berthold, SPD: 13.801 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 10.315 Stimmen
Korell, Freisinnige: 5.808 Stimmen

Raunheim:

Berthold, SPD: 203 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 13 Stimmen
Korell, Freisinnige: 54 Stimmen

Stichwahl:

Wahlkreis:

Berthold, SPD: 16.598 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 15.789 Stimmen

Raunheim:

Berthold, SPD: 227 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 55 Stimmen

 

Aber schon Ende 1906 brachte die SPD zusammen mit dem Zentrum eine Budgetvorlage Reichskanzler Bülows zur Deckung der Kosten für die militärische Abwehr des Eingeborenenaustandes in Deutsch-Südwestafrika zu Fall. Reichskanzler Bülow löste den Reichstag auf und setzte Neuwahlen für Anfang 1907 – die sogenannten Hottentottenwahlen – fest. Die SPD konnte zwar ihr absolutes Stimmergebnis noch etwas erhöhen, jedoch aufgrund des konservativ-liberalen Wahlbündnisses sank die Zahl der errungenen Reichstagssitze von 81 (1903) auf 43 (1907). Auch unser Wahlkreis ging an den Nationalliberalen Dr. Osann jr. verloren. Bei der am 25.1.1907 stattgefunden Wahl erhielten:

Hauptwahl:

Wahlkreis:

Berthold, SPD: 14.891 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 10.175 Stimmen
Korell, Freisinnige: 8.448 Stimmen

Raunheim:

Berthold, SPD: 218 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 22 Stimmen
Korell, Freisinnige: 76 Stimmen

Stichwahl:

Wahlkreis:

Berthold, SPD: 16.166 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 17.885 Stimmen

Raunheim:

Berthold, SPD: 234 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 79 Stimmen

 

Der konservativ liberale Block brach bis zur Reichstagswahl im Januar 1912 wieder auseinander und die Sozialdemokraten konnten mit 110 Sitzen einen großen Erfolg erringen. Sie wurden stärkste Fraktion im Reichstag. Für unseren Wahlkreis kandidierte Dr. Ludwig Quessel, Redakteur der in Darmstadt verlegten Zeitung Hessischer Volksfreund.

Hauptwahl:

Wahlkreis:

Dr. Quessel, SPD: 18.325 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 11.189 Stimmen
Strecker, Fortschrittliche Volkspartei: 7.268 Stimmen

Raunheim:

Dr. Quessel, SPD: 254 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 38 Stimmen
Strecker, Fortschrittliche Volkspartei: 83 Stimmen

 

Ludwig Quessel fehlten nur wenige Stimmen zur absoluten Mehrheit, sodass eine Stichwahl notwendig wurde:

Wahlkreis:

Dr. Quessel, SPD: 21.614 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 16.754 Stimmen

Raunheim:

Dr. Quessel, SPD: 280 Stimmen
Dr. Osann jr., Nationalliberale: 100 Stimmen

Ludwig Quessel konnte den Wahlkreis gewinnen und blieb deren Reichstagsabgeordneter bis 1930. Die Nationalliberale Partei fiel von 54 auf 45 Reichstagssitze zurück und ging mit dem Kaiserreich unter. Als Nachfolgepartei entstand die Deutsche Volkspartei. Die Fortschrittliche Volkspartei (linksliberal), die bei den Reichstagswahlen in Raunheim oft gute Ergebnisse erzielte, überstand auch die Novemberrevolution nicht und ging in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) auf. Zunächst geführte Verhandlungen der beiden bürgerlichen Parteien über einen Zusammenschluss scheiterten.

 

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Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl