Für die Reichstagswahl 1893 hatte Philipp Müller mit aller Bestimmtheit jede Kandidatur abgelehnt und stattdessen Balthasar Cramer vorgeschlagen. Die Kirchenchronik für 1893 führt unter Wahlen aus:
Am 9. Juni war Bürgermeisterwahl, bei welcher es – im Gegensatz zur Vorherigen – sehr ruhig zuging und der seitherige Bürgermeister Philipp Kern mit 153 Stimmen wiedergewählt wurde. Ebenso fanden kurz nacheinander Gemeinderats-, Beigeordneten-, Kirchenvertretungs- und Kirchenvorstandswahlen statt und fiel auch in die nämliche Zeit die Reichstagswahl nebst Stichwahl (24. Juni), bei welcher 19 nationalliberale (für Osann) und 111 sozialdemokratische Stimmen (für Cramer) abgegeben wurden, sodass leider zu konstatieren ist, dass die hiesige Gemeinde (mit 5/6 der Wahlstimmen!) im ganzen Kreis verhältnismäßig am meisten sozialdemokratisch gewählt hat.
Im Wahlkreis erhielt Cramer in der Hauptwahl 5.997 Stimmen (31,0 %) und in der Stichwahl 7.521 Stimmen (36,9 %). Er hat damit nicht an das letzte gute Ergebnis von Müller anknüpfen können. Das Stichwahlergebnis in Raunheim mit 85 % SPD-Stimmen ist sicher das höchste jemals erreichte.
Die Reichstagswahlen 1898 und 1903 brachten der SPD im Wahlkreis beste Ergebnisse. Balthasar Cramer konnte 1898 nach der Stichwahl dem Nationalliberalen Dr. Osann das Mandat abnehmen und 1903 sogar im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erringen.
Hauptwahl 1898
Wahlkreis:
Cramer, SPD: 9.013 Stimmen
Notnagel, Nationalliberale: 6.485 Stimmen
Bornet, Antisemiten: 4.345 Stimmen
Raunheim:
Cramer, SPD: 53 Stimmen
Notnagel, Nationalliberale: 20 Stimmen
Bornet, Antisemiten: 5 Stimmen
Stichwahl 1898
Wahlkreis:
Cramer, SPD: 12.471 Stimmen
Notnagel, Nationalliberale: 11.749 Stimmen
Raunheim:
Cramer, SPD: 107 Stimmen
Notnagel, Nationalliberale: 30 Stimmen
Eine Wahlkreiskonferenz bereitet die Reichstagswahl von 1903 gut vor. Wir lesen dazu in der Mainzer Volkszeitung vom 26.11.1902:
Konferenz des Wahlkreises Darmstadt – Groß-Gerau, Trebur, 24. November.
Im sinnig geschmückten Parteilokal unserer Treburer Genossen fand eine Konferenz Ort sozialdemokratischen Partei des Wahlkreises Darmstadt – Groß-Gerau statt. 23 Delegierte, welche 19 Orte vertraten, waren erschienen. Dem Jahresbericht des Kreisvertrauensmannes Gen. Berthold entnehmen wir u.A., dass die Kreisorganisation gegenwärtig 1.437 Mitglieder zählt, welche sich auf 21 örtliche Mitgliedschaften verteilen. Im Laufe des verflossenen Jahres haben 31 örtliche und 178 Vereins-Versammlungen stattgefunden. Die Jahresabrechnung der Kasse liegt den Delegierten gedruckt vor, dieselbe bilanziert in Einnahme und Ausgabe mit 2.658,54 Mark. Der Kreiskassierer Gen. Friedrich gibt hierzu noch einige Erläuterungen. Im Namen der Revisoren berichten Gen. Raab über die stattgehabt Revision der Kasse und Prüfungen der Jahresabrechnung. Da alles in bester Ordnung befunden wurde, wird dem Kassierer Decharge erteilt. An diese Berichte schließt sich eine bis 2 Uhr dauernde sehr lebhafte Diskussion, nach welcher die Mittagspause eintrat.In der Nachmittagssitzung steht zunächst die Nominierung des Kandidaten für die kommende Reichstagswahl auf der Tagesordnung. Sämtliche Delegierten erklärten beauftragt zu sein, den Reichstagsabgeordneten Dr. Cramer wiederum als Kandidaten zu proklamieren. Gen. Cramer erklärt, die Einmütigkeit, mit der man ihn wieder als Kandidaten aufstellt, müsse er als Befehl betrachten, dem er folgen müsse. Obschon ihm die Kandidatur wiederum neue Opfer auferlege, werde er mit den Genossen des Kreises alles tun, um die Gegner auf der ganzen Linie schon im ersten Wahlgang wegzufegen. Laut Beschluss der vorherigen Konferenz hat die Einteilung des Kreises in 16 Agitationsbezirke bereits stattgefunden.
Auf Wunsch der Delegierten lassen wir die Einteilung hier folgen, bemerkt sei, dass immer der erstgenannte Ort als Vorort zu betrachten ist: 1. Arheiligen, Messel., 2. Ober-Ramstadt, Nieder-Ramstadt, Waschenbach, Traisa., 3. Eberstadt, Niederbeerbach., 4. Pfungstadt, Hahn mit Eich, Eschollbrücken., 5. Griesheim, Wolfskehlen, Dornheim., 6. Trebur, Astheim, Geinsheim, Wallerstädten., 7. Ginsheim, Bauschheim, Bischofsheim, Gustavsburg., 8. Rüsselsheim, Haßloch, Königstädten, Raunheim., 9. Groß-Gerau, Dornberg, Nauheim., 10. Büttelborn, Berkach, Klein-Gerau., 11. Weiterstadt, Braunshardt., 12. Gräfenhausen, Schneppenhausen, Worfelden., 13. Erzhausen, Wixhausen., 14. Walldorf, Mörfelden., 15. Kelsterbach., 16. Darmstadt, Roßdorf, Erfelden, Goddelau, Leeheim, Crumstadt, Biebesheim, Stockstadt.
Nach längerer Diskussion wird beschlossen, das nächste Kreisfest erst nach der Reichstagswahl und zwar in Darmstadt abzuhalten. Der Kreisvorstand wird per Akklamation wiedergewählt. Die nächste Kreiskonferenz soll in Arheiligen stattfinden. Es werden dann noch einige Anfragen erledigt, worauf die Tagesordnung erschöpft ist. Mit einem brausenden Hoch auf die Sozialdemokratie wird die Konferenz um halb 6 Uhr beschlossen.“
Wie das Ergebnis zeigt, hat sich die Arbeit gelohnt:
Wahlkreis:
Cramer, SPD: 14.147 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 8.656 Stimmen
v. Kloeden, Bund der Landwirte: 1.836 Stimmen
Schmitt, Centrum: 903 Stimmen
Raunheim:
Cramer, SPD: 178 Stimmen
Stein, Nationalliberale: 49 Stimmen
v. Kloeden, Bund der Landwirte: 1 Stimmen
Schmitt, Centrum: 4 Stimmen
Soweit die Raunheimer Stimmergebnisse vorliegen, wurde zu dieser Wahl erstmals Voten für das Zentrum abgegeben. Die Freude im Wahlkreis war groß, wie wir der Einladung zur Siegesfeier nach Darmstadt der Mainzer Volkszeitung entnehmen können:

Im Jahre 1899 erringt die SPD bei der Landtagswahl einen weiteren großen Erfolg. Raunheim gehört zu dieser Zeit zum Wahlkreis Starkenburg 14 (bis 1911, dann Starkenburg 15), der von 1875 an durch den Nationalliberalen Dr. Osann sen. vertreten wurde. Nach der Niederlage bei der Reichstagswahl trat er zur Landtagswahl nicht wieder an. Das Mandat konnte Heinrich Berthold, ein langjähriger Freund und Gefolgsmann von Cramer und Wahlkreisvorsitzender, mit 30 Wahlmännerstimmen gegen 10 Wahlmännerstimmen der Nationalliberalen erringen. Bei dieser Wahl gingen die zwei Wahlmännerstimmen aus Raunheim noch an die Nationalliberalen.
Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl