Am 23. Mai 1863 gründete Ferdinand Lasalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, ADAV, und Anfang August 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, SDAP. Nach dem Krieg 1870/71 kam es zur Reichsgründung und Bildung des Reichstages, der nach allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen gewählt wurde. Raunheim gehörte zum Hessischen Reichstagswahlkreis 4, Darmstadt – Groß-Gerau. Der Kandidat für die erste Reichstagswahl, die am 3. März 1871 stattfand, war der Mechaniker Theodor Klotz. Er hatte den Zusatz „Eisenacher“, d.h. er gehörte der SDAP an. Theodor Klotz erhielt 340 Stimmen gleich 3,3 %, was etwa dem Reichsdurchschnitt der Partei entsprach.

Ende Oktober/Anfang November 1873 kam dann der gerade aus der Zwickauer Haft entlassene und aus Chemnitz ausgewiesene Johann Most, ein radikaler Agitator, als Redakteur zur „Süddeutschen Volksstimme“ nach Mainz. Er wurde bald zum führenden Agitator für die nächsten zwei Reichstagswahlen in den Wahlkreisen Mainz – Oppenheim und Darmstadt – Groß-Gerau, wo er selbst zum Kandidaten aufgestellt worden war. Most konnte bei den Wahlen zwar erhebliche Stimmengewinne verbuchen, aber ein Reichstagsmandat lag noch in weiter Ferne.
Die Ergebnisse der Wahlen waren:
1874: 1.224 Stimmen (11,8 %)
1877: 2.909 Stimmen (24,1 %)
Johannes Most, der ebenfalls zu den Eisenachern erzählte, war für unseren Wahlkreis nur ein so genannter Zählkandidat, d.h., er war noch in anderen Wahlkreisen aufgestellt. So war er von 1874-1878 Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Chemnitz. Zu den Wahlen 1871 und 1874 wurden vom ADAV (Lassalleaner) und der SDAP (Eisenacher) noch jeweils eigene Kandidaten aufgestellt. Hätte man von vornherein gemeinsame Kandidaten aufgestellt, wären sicher einige Mandate mehr errungen worden. Nicht nur Druck von innen, die Auseinandersetzung der Gründer Jahre beider Parteien, förderte den Vereinigungsgedanken, sondern auch der Druck von außen. Bebel, Liebknecht und andere Eisenacher saßen mehrfach in Gefängnissen. Jedoch beschränkte man sich keineswegs auf die Verfolgung der Eisenacher. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1874 wurden, ungerechnet die mit Geldstrafen erledigten Bagatellsachen, allein im preußischen Staate nicht weniger als 87 Lassalleaner in 104 Prozessen zu insgesamt 211 Monaten und 3 Wochen Gefängnis verurteilt, durchweg aufgrund von Kautschukparagraphen, wegen Schmähungen von Staatseinrichtungen, wegen Aufreizung verschiedener Bevölkerungsgruppen gegeneinander, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, wegen Majestäts- und sonstiger Beleidigungen, nicht zum wenigsten wegen Bismarckbeleidigung.
Die Einigung selbst vollzog sich dann auf dem Gothaer Kongress, der vom 22. bis 27. Mai 1875 tagte. ADAV und SDAP vereinigten sich zur Sozialistischen Arbeiterpartei, der SAP.

Die Reichstagswahl von 1881 fand nun schon unter dem Sozialistengesetz statt, dass nach Attentaten auf den Kaiser von Bismarck gerne zum Anlass genommen wurde, die Sozialdemokraten mundtot zu machen, am 21. Oktober 1878 erlassen wurde. Der Wahlkreis kndidat, wenn auch nur Zählkandidat, war kein geringerer als August Bebel. Er erreichte im Wahlkreis 1.360 Stimmen, 12,3 %. Für diese Wahl liegen auch erstmals Raunheimer Ergebnisse vor:
Fortschrittspartei: 44 Stimmen
Nationalliberale: 20 Stimmen
Reichspartei: 16 Stimmen
Sozialdemokraten: 0 Stimmen
Zentrum: 0 Stimmen
Mit der Aufstellung von Zählkandidaten gab es immer wieder Probleme, weil mehrfach auch zwei Mandate errungen wurden und bei nötigen Nachwahlen der Wahlkreis verloren ging. So errang z.B. Wilhelm Liebknecht 1881 die Wahlkreise Offenbach und Mainz. Er nahm das Mandat für Offenbach an. Der Wahlkreis Mainz fiel bei der Nachwahl – August Bebel kandidierte – mit einer Stimmenmehrheit von nur 115 Stimmen an den Redakteur Dr. Adolf Phillips von der Deutschen Fortschrittspartei. Für die nächsten Wahlen kandidierte – jetzt zum ersten mal ein Kandidat aus den eigenen Reihen – Philipp Müller aus Darmstadt.
Zur Reichstagswahl 1884 muss es in Raunheim erstmals politische Auseinandersetzungen gegeben haben. Unter dem Stichwort „Reichstagswahl“ vermerkt der evangelische Pfarrer in der Kirchenchronik:
„In Raunheim hören dieses Jahr die Wahlaufregungen nicht auf. Erst durch ein ganzes Jahr von Unruhe über die Gemeinderatswahlen (zwei Wahlen wurden 1883/1884 beanstandet) und nun wiederum die Reichstagswahl! Bei beiden hat sich … (mehrer Wörter nicht lesbar) und ganz besonders der Großherzogliche Oberförster Thun vom Mönchhof hervorgetan, der religiöse Nihilist und politisch auf der äußersten Linken stehend – viel Unheil hervor in Raunheim angerichtet hat.“
Philipp Müller erhält im Wahlkreis Darmstadt – Groß-Gerau auf Anhieb 4.892 Stimmen (30,7 %) und kommt in die Stichwahl. Dies war bei mehr als zwei Kandidaten meist der Fall. Denn nach geltendem Wahlrecht musste ein Wahlkreis mit absoluter Stimmenmehrheit gewonnen werden. Bei der Stichwahl kann Philipp Müller die Stimmenzahl auf 7.535 Stimmen (41,6 %) erhöhen, muss aber den Wahlkreis dem Nationalliberalen Justus Ulrich überlassen.
In Raunheim erhalten die Parteien:
Nationalliberale: 51 Stimmen
Deutschfreisinnige: 41 Stimmen
Sozialdemokraten: 20 Stimmen
Und bei der Stichwahl:
Nationalliberale: 87 Stimmen
Sozialdemokraten: 18 Stimmen
Mit diesen 20 bzw. 18 Stimmen sind erstmals sozialdemokratische Wähler nachgewiesen. Bei der Reichstagswahl 1887 musste Philipp Müller den Wahlkampf aus dem Gefängnis führen. Er erhält 4.043 Stimmen (21,1 %). Das Raunheimer Ergebnis verdanken wir der Kirchenchronik. Danach erhielten:
Justus Ulrich, Nationalliberale, 75 Stimmen
Eugen Richter, Freisinnige, 34 Stimmen
Philipp Müller, Sozialdemokraten, 9 Stimmen
Für die Reichstagswahl 1890 vermerkt die Kirchenchronik:
Im Monat Februar fanden die Reichstagswahlen statt, wobei im Wahlbezirk Groß-Gerau und Pfungstadt schließlich die Nationalliberalen über die Sozialdemokraten siegten. Das Ergebnis in Raunheim war:
Im 1. Wahlgang:
Nationalliberale: 22 Stimmen
Deutsch-Freisinnige: 51 Stimmen
Sozialdemokraten: 35 Stimmen
Im 2. Wahlgang:
Nationalliberale: 44 Stimmen
Sozialdemokraten: 96 Stimmen
Obwohl Müller in Raunheim ein hervorragendes Ergebnis erhielt, musste er das Mandat Dr. Osann von den Nationalliberalen überlassen. Seine Wahlkreisergebnisse waren im ersten Wahlgang 6.969 Stimmen (32,0 %) und in der Stichwahl 8.897 Stimmen (42,3 %).
Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl