Für die Gemeinderatswahlen 1875 und 1901 sind die Wählerverzeichnisse (beide Wahlen wurden neben anderen beanstandet) der stimmberechtigten Ortsbürger, in denen auch die Berufe und die für 1901 gezahlten Steuern aufgezeichnet sind, erhalten geblieben. Die relativ geringe Zahl der Wahlberechtigten zur gesamten Einwohnerzahl resultiert aus dem geltenden Wahlrecht, worauf später noch eingegangen wird. Wir erhalten aus den Verzeichnissen einen guten Überblick über die Erwerbsmöglichkeiten für diesen Zeitraum. 1875 war die „Welt noch in Ordnung“. 60 % der wahlberechtigten Erwerbstätigen waren in der Land- und Forstwirtschaft und 23 % in Handel und Gewerbe tätig. Aber erste Spuren der Industrialisierung zeichneten sich ab: 17 Männer (12,6 %) waren bereits bei der Bahn beschäftigt.
Im Jahre 1901, 26 Jahre später, hat sich das Bild erheblich geändert: Nur noch 20 % der wahlberechtigten Erwerbstätigen sind in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Die Bahn steigert den Anteil der Raunheimer auf 35 Mitarbeiter (ca. 17 %) und an den 1884 erbauten Schleusen werden sechs Raunheimer beschäftigt. Der Dienst an den Schleusen dürfte damit fest in Raunheimer Hand gewesen sein.
Erstmals erscheint auch die Gruppe der Industriearbeiter, wie Schlosser, Fabrikarbeiter, Arbeiter, Heizer etc.. Diese Gruppe zählt 47 Männer (24 %). Die tatsächliche Anzahl dürfte erheblich höher gelegen haben, da viele Arbeiter für das 1898 gegründete Röhrenwerk aus Düsseldorf und Sachsen kamen, die aber noch nicht das Ortsbürgerrecht und somit auch kein Wahlrecht besaßen. Wir wissen z.B., dass das Röhrenwerk Ende 1901 die Belegschaft auf 200 steigern wollte und bei der Fa. Opel im Jahre 1912 schon 124 Mitarbeiter aus Raunheim beschäftigt wurden.
Die große Zahl der auspendelnden Arbeiter mag auch die nachstehende Mitteilung der Mainzer Volkszeitung vom 29.02.1905 belegen:
„Als gestern Abend ca. 60 Mitarbeiter den Zug von Rüsselsheim verließen, erklärte beim Passieren des Perrons Herr Vorsteher Dietz denselben in militärischen Ton, dass von jetzt ab die Wochenkarten abends gelöst werden müssen, morgens gäbe es keine mehr. Weiter wird jedesmal bei Abgabe einer Karte auf die Arbeitsbescheinigung der Stempel gedrückt, macht 52 Stempel im Jahr. – Wir ersuchen die Eisenbahndirektion in Mainz, dem Beamten klar zu machen, was seine Pflicht und was sein Recht ist. Er ist des Publikums wegen da und nicht umgekehrt.“
Im Jahr 1908 verhandeln gleich zwei Großfirmen über den Erwerb von Grundstücken. Einmal war es eine Firma aus Frankfurt und zum anderen die Fa. Ihm. Die Main-Spitze vermerkt am 4.11.1908 hierzu:
„Eine Firma aus Frankfurt steht gegenwärtig wegen Ankaufs von 60 Morgen Gelände mit ca. 30 Grundbesitzern in Unterhandlung. Die Eigentümer verlangen pro Klafter = 6 1/4 Quadratmeter 5 Mark, die Obstbäume extra. Das Gelände wird nördlich vom Main, östlich vom Mönchhof und südlich der Eisenbahn, Strecke Frankfurt – Mainz, begrenzt und eignet sich sehr zur Fabrikanlage. Ob es zum Kauf kommt, wird die weitere Unterhandlung lehren. Die Interessenten werden jedenfalls bereits sein, ihre Forderungen noch etwas zu reduzieren, indem der geforderte Preis dem dreifachen seitheringen Wert entspricht. Das Gelände „Hinter dem Deich“ ist nun auch verkauft, jedoch werden sämtliche Abmachungen nichtig, wenn es dem Käufer nicht gelingt, bis 31. Januar nächsten Jahres die Genehmigung zum Fabrikbau zu erhalten. Welcher Art die Fabrik sein wird, ist sowohl hier, als auch bei jener, die an den „Zwölf Morgen“ (Fa. Ihm) errichtet werden soll, noch unbekannt.“
„Nunmehr sind auf die „Zwölf Morgen“, Eigentum des Fiskus, endgültig verkauft; sie stellen mit dem in der Nähe schon früher verkauften Land ein stattliches Baugelände dar, das die Lederfabrik Ihm erworben hat, um daselbst eine neue Fabrik zu errichten. Die Genehmigung ist schon für einen Teil erworben. In diesem Winter soll schon mit den Bauarbeiten begonnen werden. Auch der Gleisanschluss an die Bahn ist schon genehmigt. Der zweite Baukomplex „Hinter dem Deich“, über dessen nähere Bestimmung noch keine Gewissheit herrscht, hat sich durch Zukauf von ca. 30.000 Quadratmeter Gemeindelandes noch beträchtlich vergrößert.“ (Main-Spitze, 28.11.1908)
Offenbar konnte aber die Baugenehmigung für die Frankfurter Firma nicht erreicht werden, denn das Projekt kam nicht zustande. Besser, wenn auch nicht reibungslos, kam das aus Siedlungsprojekt der Lederfirma Ihm vorwärts. Der Chronik der Firma Ihm entnehmen wir, dass sich die Familie ihm schon ab 1902 bemühte, aus Mainz ab zu wandern, weil keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr bestanden. Nach langer Suche hat man sich durch Vermittlung von Forstmeister Hämmerle für Raunheim entschieden, denn hier konnte genügend Wasser in geeigneter Qualität für die Lederbearbeitung gefördert werden. Zunächst sollten nur die Produktionsanlagen in Raunheim stehen, aber bereits Ende 1913 wird auch die Verlegung des Hauptsitzes nach Raunheim erwogen. Das Röhrenwerk ging circa 1914 in die Konservenfabrik Hessenland über und zusammen mit dem Lederwerk Ihm waren die beiden Betriebe dann bis nach dem zweiten Weltkrieg die größten Arbeitgeber und Gewerbesteuerzahler im Ort.

Text frei nach Werner Milschewsky und Günther Diehl